0
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783827011947
Sprache: Deutsch
Umfang: 416 S.
Format (T/L/B): 2.9 x 22 x 14.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Leseprobe

Davor     Es gibt Dinge, die können nur in den schmalen Spalten der Nachlässigkeit geschehen, der Unaufmerksamkeit, in einem Wirbel aus Trägheit und Licht. Plötzlich entspringen sie der Phantasie und landen im gelebten Leben. Erklärungen werden erst später gesucht. Die Augen der Sprecher sind feucht, sie glänzen mit falschem Feuer wie die Edelsteine in Kinderschmuck. Sie behaupten alle glühend, gefühlsbetont, jeder auf seine persönliche Art, dass sie nicht wussten, was sie taten, dass sie es nicht bis zum Ende durchdacht hätten. Sie hätten zu ihrer Zeit nur eine Seite weiterblättern können. Jetzt können sie nur eine Seite zurückblättern. Sie bitten um Milde, um Erbarmen, um eine zweite Chance. Sie bieten Reue. Sie verbreiten um sich herum Trauer wie Zahlungsmittel. Das ist es, was sie sagen: Es geschah, als man noch blauäugig war. Als man eine Bergbahn noch für eine passende Metapher für Gefahr hielt. Als man das Vertrauen, das einem die Welt schenkte, wegwarf, wie man Ballast von einem sinkenden Boot wirft. Es sei nur einmal geschehen und es werde nie wieder geschehen.         Nachtsicht     Es ist die Woche des Denis Bukinow, des vermissten Jungen. Sein Bild erscheint in allen Zeitungen: ein Lächeln mit einem fehlenden oberen Schneidezahn, ordentlich zur Seite gekämmtem Haar, einem Blick, der Beifall erwartet. Manchmal kann man auf den Fotos von Vermissten schon Vorzeichen erkennen. Keine ermutigenden Vorzeichen. Es kann etwas in ihrem Blick sein, an der Art, wie sie nicht direkt in die Kamera schauen, sondern weiter weg, an ihr vorbei. Oder es ist etwas in ihrem Lächeln: eine verlegene Flüchtigkeit, ein Mangel an Bereitschaft, auf dem Leben zu bestehen. Aber nicht auf dem Foto von Denis Bukinow. Er sieht ganz lebendig aus, mit klaren Plänen für die Zukunft.     Nili denkt, dass man ihn noch finden wird. Nati nicht. Sie streiten sich beim Abendessen darüber: eine kurze Diskussion, verwirrt durch die Hitze. Fast ohne Schwung. Die alten Vorwürfe - seine arrogante Nüchternheit, ihr grundloser Optimismus. Einfach elend. Über einen Jungen, den sie nicht einmal kennen. Danach, ausgestreckt auf dem Sofa, starren sie in den Fernseher, ohne etwas zu sagen. Sie erinnern sich nicht an eine solche Hitze, ganz bestimmt nicht in Jerusalem, eine Dauerhitze, die nicht zwischen Tag und Nacht unterscheidet. Sie erinnern sich nicht an eine ähnliche Geschichte: Ein sechsjähriger Junge verlässt die Schule mit offenen Schnürsenkeln und kommt nicht zu Hause an (der Hausmeister hatte ihn wegen der Schnürsenkel ermahnt, stand in den Zeitungen). Nili kommt es eigentlich vor, als habe sie im Lauf der Jahre von anderen solchen Kindern gehört, es hat noch andere Fälle gegeben. Aber sie erinnert sich nicht genau. Und dann, mitten in das alles, platzt das Klingeln des Telefons. Ein Anruf aus Paris, zu später Stunde. Von Jesaja Duclos. Ein kurzer Wortwechsel. Duclos sagt: 'Nati Schoenfeler? Hier Duclos.' Mit seiner prahlerischen Stimme, die dröhnend aus dem Hörer schallt. Hier Duclos. Als würden sie immer wieder mal spätabends miteinander telefonieren. Nati braucht länger als den Bruchteil einer Sekunde, um zu verstehen. Um sich zu erinnern. Zu erschrecken. Er sagt: 'Duclos? Was für eine Überraschung!' Und dann, ohne jedes Zögern, verkündet Duclos: Er komme morgen für ein paar Tage nach Israel, geschäftlich, er wolle sich mit ihnen treffen.     Alles Mögliche passiert in diesem Sommer. Es ist der Sommer der nicht so fernen Katastrophen, einer Kette seltsamer Unfälle. Zwei Wochen zuvor, auf der Straße links hinter dem Lebensmittelgeschäft, ist der vierte Stock eines Wohnhauses eingestürzt. Es war eine Party: Die Leute tanzen, der Fußboden erzittert, und dann öffnet der Fußboden sein Maul und bläst einen Staubpilz in den Himmel. Das Sterben hat eine tiefe, heisere Stimme, wenn es in einem verborgenen Zimmer stattfindet, aber öffentlich wird es zu einem Schrei. Und nach dem Schrei gibt es einen Moment außerhalb der Zeit, einen kurzen Moment de

Weitere Artikel aus der Kategorie "Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)"

Alle Artikel anzeigen